Wohnen und Mieten in Berlin – Hauptstadt der sozialen Spaltung

01.08.2016

In Berlin findet eine Dynamisierung der sozialräumlichen Spaltung statt. Viele Haushalte müssen ihre angestammten Wohnviertel verlassen, weil sie sich die steigenden Mietpreise hier nicht mehr leisten können. Dieser „Segregations“-Prozess vollzieht sich schon seit Mitte der 90er Jahre. Das wurde lange von regierenden Politikern, den Verwaltungen und von vielen im Stadterneuerungsprozess beauftragten Stadtplanern aktiv geleugnet. Die mit der geförderten baulichen Aufwertung verbundene Verdrängung einkommensschwacher Haushalte wurde für Ostberlin als normale Begleiterscheinung einer nachholenden Modernisierung abgebucht. Leute, die diese Entwicklungen kritisierten, wurden als Schwarzmaler verleumdet oder sogar kriminalisiert – wie Andrej Holm. Erst als nach 2010 die Verdrängung in vielen innerstädtischen Quartieren nicht mehr nur Hartz-IV-Bezieher betraf, sondern auch die Mittelschichten erreichte, nahmen sich Medien und Politik des Themas Gentrifizierung an.

 

„Neue“ Wohnungspolitik? Performance gut – Inhalt ungenügend.

Der Senat, in dem die SPD seit über 25 Jahren die Bau- und Wohnungspolitik bestimmt, den letzten Jahren ein Strauß von Aktivitäten offeriert: Mietenbündnis, Neubaubündnis, Zweckentfremdungsverbot, Umwandlungsverordnung, neue Wohnungsbauförderung, Wohnraumversorgungsgesetz. So als ob die SPD 25 Jahre verfehlte Wohnungspolitik jetzt ganz schnell heilen wollte. Doch schaut man hinter die mit erheblichen PR-Aufwand inszenierte „neue“ Wohnungspolitik, kommt man zu der ernüchternden Feststellung: zu spät, halbherzig, wirkungslos, nicht nachhaltig und oft in die falsche Richtung. Performance gut – Inhalt ungenügend.

 

Was ist zu tun?

Bauen, Bauen, Bauen!? Der Wohnungsneubau wurde fast allen Parteien, der Wohnungs- und Bauwirtschaft, den Interessenverbänden der Haus- und Grundeigentümer und sogar Mietervereinen als das Mittel gegen die steigenden Mieten propagiert. Widerspruch, den es in der Fachöffentlichkeit und auch in den Parteien gab, wurde ignoriert.[1] Erst in letzter Zeit werden die Zweifel lauter.[2] Trotz stark gestiegener Wohnungsneubauzahlen hat sich der Mietanstieg sogar beschleunigt. Die Kauf- und Mietpreise für Neubauwohnungen sind hoch und steigen weiter. Es ist trivial. Denn Wohnungen werden für eine zahlungskräftige Nachfrage gebaut, nicht zur Wohnraumversorgung von jedermann. Die große Mehrheit der Berliner kann seinen Wohnungsbedarf auf diesem Wohnungsmarkt nicht befriedigen. Sie sind auf diesen mangels Zahlungsfähigkeit keine Nachfrager, keine Marktteilnehmer. Auch der behauptete „Sickereffekt“ existiert nicht. Zum einen machen die zahlungskräftigen Käufer und Mieter der teuren Neubauwohnungen überwiegend nicht preiswerte Wohnung frei. Zum anderen sind die Neuvermietungsmieten der Hauptmietpreistreiber. Leere Wohnungen lassen sich zudem leichter als Eigentumswohnungen vermarkten.

Auch kommunalen Neubauwohnungen sind teuer. Kostendeckende Mieten liegen auch bei den kommunalen Wohnungsbaugesellschaften weit über 10 €/qm. Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften verlangen deshalb für nicht geförderte Neubauwohnungen auch Anfangsmieten zwischen 10 und 14 €/qm (nettokalt).

Mit der Neubaupropaganda „baut, baut, bau“ werden vor allem Claims für den Betongold-Abbau abgesteckt. Zum anderen versucht die SPD Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit bei der Lösung des Wohnungsproblems, dass sie selbst hauptsächlich zu verantworten hat, zu demonstrieren. Dabei verschärft sie dieses noch durch eine falsche Prioritätensetzung und den Auslieferung der Stadt an die Immobilienwirtschaft, an Bodenspekulanten und Wohnungsdealer.

Privater und insbesondere öffentlicher Wohnungsneubau sind für die Stadtentwicklung der wachsenden Metropole Berlin unentbehrlich. Sie sollten im Interesse des Gemeinwesens gesteuert und befördert werden. Aber sie sind nicht der Königsweg für die Lösung der aktuellen sozialen Wohnungsversorgungsprobleme.

 

Neu soziale Wohnungspolitik für Berlin

Für eine aktive soziale Wohnungspolitik gibt es im Wesentlichen vier Instrumente: Mieterecht, Städtebaurecht, Wohnungsbauförderung (alt und neu) und öffentliche Wohnungsbestände. Mietrecht ist Bundesrecht. Auch hier kann die Berliner Politik Initiativen ergreifen. Mein Schwerpunkt ist aber, was in Berlin zu tun ist.

 

  1. Kommunale Wohnungsbaugesellschaften

Das wichtigste und wirksamste Instrument einer sozialen Wohnungspolitik in Berlin sind die städtischen Wohnungsbestände. Um dieses wirksamer als bislang einzusetzen, müssen die Unternehmensziele und die Vermietungspraxis der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften neu, sozial ausgerichtet werden:

a) Umbildung zu gemeinnützigen Wohnungsunternehmen

  • Hauptaufgabe ist die Wohnraumversorgung von Berliner Haushalten, die sich auf dem Wohnungsmarkt nicht eigenständig mit angemessenen Wohnraum versorgen können;
  • darüber hinaus: Bereitstellung eines differenzierten Angebots an preisgünstigen Mietwohnungen für breite Schichten der Bevölkerung, einschließlich Mietern mit mittleren Haushaltseinkommen;
  • schrittweise Ausdehnung des Wohnungsbestandes durch Zukauf und Neubau; kein Verkauf von Wohnungsbeständen; im Ausnahmefall Erbpacht- oder Treuhandverträge mit gemeinnützigen Wohnungsunternehmen bzw. Genossenschaften; gleiches gilt für Baugrundstücke;
  • für die Realisierung dieser sozialen Ziele erfolgt eine kontinuierliche Eigenkapitalerhöhung durch Zuschüsse des Eigentümers und Einbringung öffentlicher Grundstücke; keine Entnahme von Überschüsse oder sonstiger Erlöse;
  • Transparenz der Unternehmenspolitik, Offenlegung der wirtschaftlichen Daten;
  • Neuaufbau des Unternehmenscontrolling unter direkter Beteiligung des Abgeordnetenhauses;
  • Förderung von Mieterselbstverwaltungsprojekten;
  • starke, eigenständige Mieterräte; Ausschluss der Wahlbeeinflussung durch Unternehmensleitung und Eigentümer.

b) Mieten und Vermietungspolitik

  • Mieten nicht über Mietspiegel-Mittelwert, auch bei Neuvermietung;
  • im Falle umfassender Sanierung bei Neuvermietung maximal 10% über Mietspiegelmittelwert;
  • Begrenzung des Maßnahmenumfanges bei Modernisierungen auf das Erforderliche;
  • energetische Modernisierung erfolgt auf der Basis der realen Energiekosteneinsparung warmmietenneutral für die Mieter; die reale Wirksamkeit der Energieeinsparung ist nachzuweisen;
  • Abschluss von Modernisierungsvereinbarungen mit allen Mietern; Einvernehmen mit den Mieter als Hauptziel; Erhalt von legalen Mietereinbauten, Berücksichtigung angemessener Mieterwünsche, Vermeidung von Duldungsklagen, Einschaltung externer Mediation bei schwer lösbaren Konfliktfällen;
  • Stabilität der Mieterschaft als übergeordnetes Ziel der Vermietungspolitik, nicht die Ertragssteigerung;
  • Angebote an Mieter zum Umzug in eine passendere kleinere Wohnung im angestammten Wohnumfeld mit gleicher Kaltmiete je Quadratmeter und Übernahme der Umzugskosten;

c) Härtefall-Regelungen

  • Kappung der Bruttowarmmiete für alle Bestandsmieter bei 30% des anrechenbaren Haushaltsnettoeinkommens;
  • Angemessenheit der Wohnungsgröße: 1 Zimmer pro Personen des Haushalts plus 1 Zimmer;
  • bei Bestandsmietern gilt die Härtefallregelung für die angemessene Wohnfläche;

d) Sozialwohnungen der städtischen WBG

  • Überführung der geförderten preis- und belegungsgebundenen Sozialwohnungen in die allgemeinen Mietenregelungen der städtischen Gesellschaften, sobald sie deren Niveau erreicht haben; keine „Rücknahme“ von sogenannten Mietverzichten vor der Überführung;
  • Überführung der geförderten preis- und belegungsgebundenen Wohnungen aus Programmen der sozialen Stadterneuerung in die allgemeinen Mietenregelungen der städtischen Gesellschaften, sobald sie deren Niveau erreicht haben;

 

  1. Sozialer Wohnungsbau. – Bestand
  • Begrenzung der Mieten und Einführung von Richtsatzmieten (Abschaffung des Einfrierungsgrundsatzes, Anpassung an tatsächliche Kosten, Senkung der Zinsen für Aufwendungsdarlehn; Umfinanzierung)
  • Nachbesserung der Regelungen zum Mietzuschuss im WoVG Artikel 1;
  • keine vorzeitige Ablösung von Aufwendungsdarlehn;
  • Ausübung des Vorkaufsrechts, Aufkauf von Sozialwohnungen, insbesondere in zentralen Stadtlagen mit hoher Aufwertungsdynamik;
  • Nachsubventionierung der Fördernehmer in Ausnahmefälle zur Abmilderung sozialer Härten und bei nachhaltiger Sicherung für die Sozialmieter*innen.

 

  1. Neuer sozialer Wohnungsbau (Wohnungsbauförderung)
  • Neufassung der Förderprogramme: nachhaltige Preis- und Belegungsbindung; Mieten dauerhaft AV-Wohnen-kompatibel;
  • Bei 30% der Wohnungen Mieten bis 5,50 €/qm, 60%, bis 8,50 €/qm, keine über 10 €/qm.
  • Neubauförderung grundsätzlich vor allem für kommunale Wohnungsunternehmen.
  • Förderung auf Basis von dauerhaften Mietpreis- und Belegungsbindungen auch an Genossenschaften und gemeinnützige Wohnprojekte.

 

  1. Förderfonds für die Sanierung-/Modernisierung von Bestandswohnhäusern.
  • Förderung nur von Genossenschaften, gemeinnützigen Wohnungsunternehmen und Wohnprojekten;
  • dauerhafte Mietpreis- und Belegungsbindung bei WBS und AV-Wohnen kompatiblen Mietpreisen;
  • neues Förderprogramm für Mietermodernisierung.

 

  1. Milieuschutz (soziale Erhaltungsverordnung)

Obgleich das soziale Erhaltungsrecht auf der Grundlage der gegenwärtigen Fassung des Baugesetzbuches ein relativ schwaches Instrument ist, um Mieter vor Verdrängung zu schützen und die soziale Mischung der unter Verwertungsdruck stehenden Wohnviertel zu erhalten, so sollte es soweit wie es der Rechtsrahmen hergibt durch die öffentliche Verwaltung zur städtebaulichen Steuerung genutzt werden. Ein schwaches Instrument ist besser als gar keines.

  • Kosten- und damit mietentreibende Modernisierungsvorhaben sind auf deren tatsächliches Erfordernis für die zeitgemäße Bewirtschaftung des Hauses zu prüfen und widrigenfalls zu versagen. Die bezirklichen Genehmigungsbehörden müssen zu einer restriktiven Genehmigungspraxis angehalten und befähigt werden. Hierfür sind sie angemessen juristisch, personell und finanziell auszustatten.
  • Die Erhaltungsverordnung ist auch zu nutzen, um Nutzungsänderungen, die den Zielen des Erhalts der sozialen Zusammensetzung der Gebietsbevölkerung zuwiderlaufen, zu versagen.
  • Die Ausführungsvorschriften für die Anwendung der Umwandlungsverordnung sind zu überarbeiten, da die derzeitige Genehmigungspraxis in Berlin die Umwandlung von Miet- und Eigentumswohnungen nach dem Erlass der Verordnung im Frühjahr 2015 nur geringfügig gedämpft hat. Dreiviertel aller Anträge werden genehmigt.

Detaillierteres zum Milieuschutz und zur Umwandlungsverordnung.

  1. Zweckentfremdungsverbot
  • Das 2014 erlassene neue Zweckentfremdungsverbot muss konsequenter gehandhabt und nachgebessert werden. Die Ausführungsrichtlinien sind zu überarbeiten. Die Bezirke sind für Erfüllung dieser Ordnungsaufgabe angemessen personell auszustatten sowie juristisch und finanziell bei Konflikten zu unterstützen.
  • Schwerpunkte der ordnungsbehördlichen Intervention gegen Zweckentfremdung sind der gewerbliche Ferienwohnungsbetrieb und der Leerstand von Wohnungen.

 

  1. Stärkung der Bau- und Wohnungsaufsicht
  • Die Bau- und Wohnungsaufsicht ist in die Lage zu versetzen, umgehend einzugreifen, wenn Wohnungen im Zuge von Baumaßnahmen oder durch unterlassener Instandhaltung drohen unbewohnbar zu werden und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Mietern die gefahrlose Nutzung ihrer Wohnungen zu sichern.

Michail Nelken, 01.08.2016

 

[1] Mieten: Das Märchen vom problemlösenden Neubau, Mietenblog des LV Berlin der Grünen, 28.01.2013; http://mietenblog.de/?p=2899;

Dr. Matthias Schindler, Wohnungsbau und soziale Wohnraumförderung für Berlin – Der Einstieg in die soziale Wohnungswirtschaft, Studie im Auftrag der Linksfraktion Berlin, März 2014, hier insbesondere S. 18 f und S. 24 f.

[2] Andrej Holm, flucht-aus-der-verantwortung-wohnen-zwischen-marktversagen-und-staatlichem-scheitern, gentrificationblog v. 01.03.2016,

Wohnungsnot: Rettung durch Großinvestoren? Sendung Panorama 23.06.2016.